Am 16. Oktober 2014 um 18:02 Uhr Ortszeit in Chile stellte Guido Kunze aus Mühlhausen (Thüringen) einen neuen Höhenweltrekord mit dem Fahrrad auf. Der Extremsportler fuhr am Ojos des Salado mit seinem Fatbike von der Pazifikküste bis auf 6233 Meter. Mittlerweile ist Guido Kunze wieder daheim. Mit noch von der Kälte geschwollenen Schleimhäuten in Nase und Rachen berichtet er hier ausführlich…
„Das war echt eine ziemliche Hausnummer. Ich musste an meine körperliche Grenzen gehen“, erzählt Guido Kunze, was für den Ausdauerathleten, der vor 15 Jahren den Ultrabereich für sich entdeckte, so unbekannt nicht sein dürfte. „So platt wie am Ojos war ich aber noch nie –ausgepumpt von Wind, Kälte und einem Sauerstoffgehalt in der Luft, der etwa bei der Hälfte des im Flachen Üblichen liegt.“ In den Anden drohte phasenweise sogar sein eiserner Wille nachzugeben, der ihn durch schon so viele verrückte Projekte getragen hat.
„Dieser dauernde Wind zehrt unglaublich an den Nerven und an der Substanz“, berichtet Kunze. „Wir waren auf alles vorbereitet, wir hatten alles besprochen, ich wusste, dass ich gegen Wind und Kälte und natürlich gegen die dünne Luft kämpfen würde. Aber alle Vorbereitung ist nichts gegen die Wirklichkeit.“
Je höher Guido Kunze auf dem Rad und sein Begleitfahrzeug kamen – die Gesamtstrecke führte über 342,77 Kilometer und insgesamt 6899 Höhenmeter von Bahía Inglesa an der Pazifikküste an den Nordwestgrat des Ojos del Salado – desto ungeschützter war er dem Wind ausgeliefert. Windstille erlebte er nur selten („völlige Stille, das dürfen viele Mensch niemals erleben“) unerfreulich hohe Geschwindigkeiten dagegen oft. Der viento blanco, der „weiße Wind“, erreichte in Spitzen 90 bis 100 km/h. Windstärke 10, schwerer Sturm. Nur gut, dass die Luftdichte in der Höhe abnimmt.
Selbst eine Flucht in den Windschatten seines Begleitfahrzeuges hätte nicht viel gebracht. Es gibt keinen richtigen Windschatten und das Fahrzeug fährt auch nicht die gleiche Linie. Aber für Sekunden, war es eine Erholung. „Man hätte sich auch nicht lange darin aufhalten können. Die Sonne schien ja immer noch, und ohne Wind steigt die gefühlte Temperatur rasant an. Also hätte ich angefangen zu schwitzen, weil ich ja für 5° C eingepackt bin und nicht für 25° C.“ Die niedrigste im Windschatten gemessene Temperatur lag übrigens bei moderaten –8°C.
Bei seinem Weltrekord wurde der Inhaber eines Laufsportladens, den er mit seiner Freundin Gaby im thüringischen Mühlhausen betreibt, von der chilenischen Tourismusgesellschaft Sernatur unterstützt. Sie sorgte für einigen Pomp unterwegs: Ein ganzes Polizeikorps begleitete den Mountainbiker 80 Kilometer lang per Motorradeskorte und die halbe Regionshauptstadt Copiapó wurde für die Durchfahrt des Thüringers gesperrt. „Das war sehr angenehm, denn wir hatten schon Sorge, wie wir mit unseren Fahrzeugen – Kamera-Crew und Begleit-Team – durch die völlig überfüllte Stadt und den Staus an den Baustellen ohne große Verzögerung und zusammenhängend durch kommen sollten. Auch bei den hohen Temperaturen wäre ich an den roten Ampeln übergekocht, da ich ja im Regen gestartet war und zu diesem Zeitpunkt noch zu viel anhatte. Ich wollte aber mit dem umziehen bis zur ersten Pause nach 80 Kilometern warten.“
Das GPS als Motivator
Bis auf etwa 900 Meter Höhe und knapp 150 Kilometer erwartete Kunze „normales Radfahren“. Dort, in der Nähe der Ortschaft La Puerta, entschieden sich Athlet und Begleiter für die landschaftlich interessantere von zwei möglichen Routen, obwohl diese rund zehn Kilometer länger und vom Untergrund schwieriger zu fahren ist. „Die Monotonie der Wüstenlandschaft zehrt an der Motivation. Nirgendwo findet das Auge Abwechslung. Du starrst auf dein Vorderrad und das Fahrrad-GPS, weil nur dort etwas passiert. Auf dem GPS siehst du wenigstens, dass du tatsächlich vorwärts kommst!“ Die landschaftlich reizvollere und für die Motivation bessere Strecke windet sich durch den Canyon des Río Lama. Aber sie erfordert einen steilen Passanstieg auf etwa 4600 Meter. Hinter jeder Haarnadelkurve im Fels verbirgt sich noch eine weitere…
Für Guido Kunze bringt diese Piste die erste Auseinandersetzung mit einer Landschaft, die eher den Willen als nur die reine Physis fordert. Dumm gelaufen: Er fährt schließlich in der Nacht durch den Canyon… So werden die Rampen zwischen den Haarnadeln noch länger und der erhoffte optische Motivationsschub bleibt aus. Gerade das schöne Stück um die Laguna Santa Rosa…
Weitere 80 Kilometer später, auf nun 4450 Metern Höhe, erreicht er auf der nach Argentinien weiterführenden Staatsstraße den Abzweig zum Ojos del Salado. Nicht weit entfernt am zweiten Salzsee, der Laguna Verde, hatte das Team zuvor ein Basislager zur Akklimatisation und Erkundung eingerichtet. Wind, Kälte und die immer dünner werdende Luft machen sich jetzt stärker bemerkbar.
Guido Kunze sitzt inzwischen etwa 27 Stunden reine Fahrzeit im Sattel und die zweite Nacht bricht an. Alles Weitere würde sich immer näher an der Todeszone mit immer niedrigerem Sauerstoffgehalt in der Luft abspielen. „Die Todeszone meint beim Höhenbergsteigen eigentlich den Bereich über 8000 Meter“, erklärt Kunze, „oberhalb von etwa 4800 bis 5000 Meter kann der menschliche Organismus nicht auf Dauer überleben. Es ist auch keine echte Regeneration möglich.“ Er entscheidet deshalb, eine etwas längere Nachtruhe einzulegen, weil die nächste sonst irgendwo bei oder über 6000 m stattfinden würde. Die Supporter werfen die Primus-Kocher an. Etwas Warmes essen und trinken, dann versucht Kunze in der Schutzhütte des ersten Refugio so gut wie es eben geht ein wenig zu ruhen.
Es geht richtig zur Sache
Kurz nach Sonnenaufgang bricht er wieder auf. Es soll das letzte Teilstück werden – und brutal. Wie bei der Erkundung haben die Motorfahrzeuge wieder schwer mit den schlechter werdenden Verhältnissen zu kämpfen. Kunze leidet vor allem unter Wind, Staub und Trockenheit. Nur das Mountainbike mit seinen dicken Reifen schnurrt noch problemlos über Kies, Geröll, Sand und Blockwerk. „Ghost, der Fahrradhersteller, hat alles richtig gemacht“, lobt Kunze sein für das Projekt eigens entwickeltes Bike. „Rahmen, Anbauten, Technik, Laufräder alles ohne Pannen oder Stolperer. Wie gemacht, damit mir das Leben etwas leichter wird. Ich weiß nicht, ob ich ohne dieses Bike so weit gekommen wäre.“
Als erste ganz große Herausforderung entpuppt sich der Abschnitt zwischen 5200 und 5800 Metern, dort wo sich das zweite Akklimatisierungsbiwak befand. Er muss zwei Stücke queren mit äußerst feinem Sand – wie aus der Sanduhr. Die Autos bleiben stecken und müssen freigeschaufelt werden. Den Druck in den Fat Tires seines Mountainbikes lässt Kunze bis auf 0,3 bar ab, er schaltet in die niedrigsten Gänge – und dennoch bietet der Untergrund nicht den erforderlich Grip. Der Extrembiker muss erstmals sein Bike aus der Linie schieben, um auf einer anderen weiterfahren zu können.
Er geht jetzt zu jener Taktik über, die er bei der Erkundung festlegte: „Reintreten, bis ich blau oder schwarz bin. Wenn ich gerade noch koordiniert absteigen kann, eine Pause einlegen. Dann das ganze von vorn“, so Kunze. „Überrascht hat mich dabei, wie schnell ich regenerieren konnte.“
„Fahren“ bekommt eine neue Bedeutung
Am Nachmittag des 16. Oktobers erreicht Kunze die 6000-Metermarke. Die Tour wird zunehmend zur Plackerei. Vom Unterstützungs-Team begleitet ihn Jan Lösekrug als Verpfleger weiter nach oben. Die höhenerfahrenen Sichtzeit-TV- Leute Armin Buchroithner und Christoph Hörner halten im Bild fest, dass von „Radfahren“ immer weniger die Rede sein kann. Sie filmen eher ein kurzes Radbewegen und stoßweises „In-die-Pedale-treten“. Dann geht Kunze einmal mehr blau und fällt ins Geröll.
Mittlerweile nähern sich die Vier einem Schneefeld auf ca. 6300 Meter Höhe, teils frischer Niederschlag vom Tag zuvor. Der Tag neigt sich dem Ende. Der Athlet ist körperlich ausgelaugt – völlig. Nicht zuletzt, weil der Gewichtsverlust während der Akklimatisierung höher ausfiel als erwartet. „Außerdem war ich auch psychisch ernsthaft mitgenommen. Dieser Kampf mit dem Sturm… Das ist ein Gegner, der in jedem Fall mehr Ausdauer hat als du!“
Alle befinden sich jetzt auf einer Höhe, in der auch Alltägliches zur Herausforderung werden kann. Sollen sie hier auf 6200 Metern ein Notbiwak aufschlagen? Darauf ist niemand wirklich erpicht… Sollen sie zurück ins höchste Biwak auf 5800 Metern absteigen und am Folgetag weitermachen? Vermutlich, um dann doch nur vielleicht 100 Höhenmeter bis zum Schneefeld weiterzukommen?
Kunze und sein Team schauen auf die beiden Garmin GPS-Fahrradcomputer, die auch unter diesen Extrembedingungen gewohnt zuverlässig arbeiten. Um 18:02 Uhr Ortszeit beschließt Guido Kunze, dass es jetzt reicht. Nach genau 37 Stunden, 11 Minuten und 12 Sekunden reiner Fahrzeit sowie einer Strecke von 342,77 Kilometern hat er eine Höhe von 6233 Metern erreicht. Neuer Rekord, genau dokumentiert auf seinen Garmin-Geräten und jeder Meter vom Kamera-Team gefilmt. So kommt auch im Februar 2015 eine einstündige Dokumentation, produziert von Red Bull Media House und der Firma Sichtzeit. Perfekt dokumentiert, sollte der Eintragung bei Guinness World Record nichts im Wege stehen.
Zurückblickend gesteht Guido Kunze ein: „Es ist erschreckend, wie weit man an seine Grenzen geht. Mit meinem Ziel vor Augen habe ich eine drohende Unterkühlung nicht wirklich realisiert. Jetzt kann ich auch Bergsteiger besser verstehen, wenn sie drohende Katastrophen kurz vor dem Ziel nicht mehr richtig erkennen. Alles wird dem Ziel untergeordnet. Christoph Hörner und Armin Buchroithner, die höhenerfahrenen Kameraleute, haben sofort noch auf 6233 Meter mit Bergrettungstechnik Köper und Hände auf Temperatur gebracht. So war ich erst einmal fit für den Abstieg. Aber die Freude war dennoch riesig. Und zurück bei den anderen Team-Mitgliedern, wurde diese Freude noch größer. Aber auch am nächsten Tag, inzwischen zurück am Startpunkt Bahía Inglesa, war die Durchblutung von Fingern und Zehen noch nicht ganz wieder normalisiert.“
Mittlerweile ist Kunze wieder daheim, gesund und munter. Und so langsam werden ihm auch die schönen Erlebnisse bewusst. Weite, Einsamkeit, der unglaublich klare Sternenhimmel… Aber ein richtiges Bett, Sauerstoff ohne Ende und eine heiße Dusche – das hat schon was.